Vereisungsschutz – nur zur Ertragsoptimierung
Die Hügel im Waldstück BB-14 erreichen Höhen bis 500 m über Meeresspiegel. Steht dort ein 285 m hohes Windrad, so befindet sich die Spitze auf dem Höhenniveau von Alb und Nordschwarzwald. Dort ist es deutlich kälter. So ist gut vorstellbar, dass die oberen Teile der Anlage Frostbedingungen vorfinden, während am Boden nichts davon zu spüren ist.
Unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen ist Eisansatz an den Windkraftanlagen, vor allem an den Rotorblättern, möglich. Die aerodynamisch optimierte Flügeloberfläche stimmt dann nicht mehr, was die Drehzahl und damit den Stromertrag mindert. Ferner kann sich eine Unwucht im Rotorlager einstellen, was den mechanischen Verschleiß erhöht. Beides will der Hersteller vermeiden. Er bietet zwei Zusatzeinrichtungen an, um damit umzugehen: Ein Eiserkennungssystem und eine Enteisungsanlage.
Eiserkennungssystem
Beim Eiserkennungssystem VID des Herstellers Vestas messen Sensoren in den Flügeln die Eigenschwingungsfrequenz des Blattes. Ähnlich, wie sich eine Stimmgabel verstimmt, wenn sie mit einem Gewicht beklebt wird, „verstimmt“ sich auch das Rotorblatt — schon, so die Theorie, bei wenigen Millimeter Eisbelag. Dies wird der Steuerungselektronik gemeldet, die ihrerseits die Anlage stoppt. Das Schwingungsmuster kann auch im Stillstand ermittelt und die Anlage so konfiguriert werden, dass sie automatisch wieder startet, wenn „Eisfrei“ gemeldet wird.
Willkommener Nebeneffekt ist, dass der Eisbelag nicht bei Flügelspitzengeschwindigkeiten von bis zu 390 km/h weit in die Landschaft geschleudert wird (Eiswurf). Doch herabfallendes Eis (Eisabfall) von der stehenden Anlage wird nicht verhindert. In der Gerätespezifikation schreibt der Hersteller:
„Das VID-System trägt zur Minderung der Gefahr von Eiswurf bei, ist jedoch nicht für die Minderung der Gefahr von Eissturz oder Eisabfall und/oder Eissturz vorgesehen. Sollte der Empfänger das System für solche Zwecke benutzen oder sich diesbezüglich darauf verlassen, tut er dies auf eigene Gefahr. Die Gefahr von Eiswurf oder Eisabfall infolge des Betriebs der Windenergieanlage und des VID-Systems liegt in der alleinigen Verantwortung des Kunden.“
Enteisungssystem
Ergänzt wird das Eiserkennungssystem von Vestas durch eine Enteisungseinrichtung VAS, bei der elektrische Heizmatten entlang der Vorderkante der Rotorblätter (und dort in der nabenfernen Hälfte) angebracht sind. Das ist die Zone, die im Betrieb am ehesten vereist und und zu Leistungseinbußen führt.
Im Stillstand kann die Vereisung überall mit gleicher Wahrscheinlichkeit auftreten, da nützt diese Einrichtung nichts. „Ein ideales System müsste die gesamte Blattfläche abdecken. Dies ist jedoch aus Kosten-, Gewichts- und Energiegesichtspunkten nicht sinnvoll“, schreibt der Hersteller und rechnet vor, dass dafür pro Rotorblatt eine Leistung von mehr als 300 kW notwendig wäre. Sie müsste als Fremdstrom teuer eingekauft werden.
In der Vestas-Produktbeschreibung findet man konsequenterweise wieder einen Warnhinweis: „Das VAS wurde entwickelt, um Produktionsverluste zu minimieren und ist nicht speziell dafür ausgelegt bzw. wird nicht speziell dafür eingesetzt, das Risiko von Eiswurf, Eisabfall und/oder Eissturz zu verringern.“
Abstand halten!
Wenn die angebotenen Eisschutzeinrichtungen nur den Betreiber vor Produktionseinbußen schützen, nicht aber Passanten vor Eisabfall, dann hilft nur eines: Bei winterlichen Bedingungen sich von den Windrädern entfernt halten.
Bei Fallhöhen von 250 m oder mehr kann Wind das sich lösende Eis kräftig zur Seite verdriften. Die Landesregierung verlangt deshalb: Es „sind Abstände wegen der Gefahr des Eisabwurfs(…) einzuhalten, soweit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht auszuschließen ist. Abstände größer als 1,5 x (Rotordurchmesser plus Nabenhöhe) gelten im Allgemeinen als ausreichend. (…) Im Aufenthaltsbereich unter den Rotorblättern einer Windenergieanlage (…) ist durch Hinweisschilder auf die verbleibende Gefährdung durch Eisabfall bei Rotorstillstand oder Trudelbetrieb aufmerksam zu machen.“
Damit wird amtlich ein Gefahrenbereich von rund 500 m um das Windrad herum definiert. Wer die dort aufgestellten Warnschilder ignoriert, kann niemanden haftbar machen, wenn ihm ein Eisbrocken aus 200 m Höhe auf die Füße fällt.
Risikogutachten: Der tolerierbare Todesfall
Die Genehmigungsbehörde verlangt vom Betreiber in der Regel ein Gutachten, welches das Schadensrisiko durch Eisfall für seine Anlage bewertet. Gegenstand des Gutachtens ist nicht, Bedingungen zu definieren, bei denen kein Schaden auftritt. Stattdessen wird ein möglicher Eis-Schaden mit anderen Lebensrisiken verglichen und akzeptiert, wenn er deutlich niedriger ist. Hier ein Beispiel: Das allgemeine Todesfallrisiko in der Bevölkerung wird mit nicht niedriger als 1 von 5.000 Personen pro Jahr abgeschätzt. Dann ist das Todesfallrisiko durch Eisabwurf tolerierbar, wenn es nicht mehr als 1 von 100.000 Personen pro Jahr betrifft, die sich im Gefahrenbereich eines Windrades aufhalten. Dies entspricht etwa der Wahrscheinlichkeit, bei einem Gebäudebrand ums Leben zu kommen und ist zehnmal häufiger als von einem Blitz getroffen zu werden. Sie wissen, wie man sich bei einem Gewitter verhält. Dann sollten Sie erst recht Vorsichtsmaßnahmen bei winterlichen Bedingungen im Windrad-Gelände beachten.
Der Gutachter versucht einerseits abzuschätzen, wie häufig sich jemand im Gefahrenbereich aufhalten könnte und andererseits, wie wahrscheinlich es ist, dass ein tödlich wirkender Eisbrocken herabstürzt. Ergibt sich eine größere als die oben erwähnte tolerierbare Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, so schlägt der Gutachter Risikominderungsmaßnahmen vor: Warnleuchten, die mit dem Eiserkennungssystem gekoppelt sind, Absperrung des Gebietes und/oder Verlegung von Wegen werden genannt, zur Not auch Versetzung des Windrades an einen weniger gefährdenden Ort.